Gekürzte Version eines Vortrages gehalten von Robert Waldl auf der 16th World Conference for Person-Centered Psychotherapy and Counseling am 11.09.2024. (Übersetzung aus dem Englischen vom Transskript einer Tonaufzeichnung).
Guten Tag, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es ist mir eine Ehre, heute hier beim Weltkongress für personzentrierte Psychotherapie und Beratung in Athen zu sprechen.
Ich möchte Sie einladen, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, das oft übersehen wird, aber eine tiefgreifende Rolle in der Entwicklung des Selbst spielt: die Beziehung zwischen Geschwistern. Das Thema meines Vortrags lautet: „Wie Konflikte zwischen erwachsenen Geschwistern vermieden und gelöst werden können (wenn diese das wollen)“.
Die Beziehung zu unseren Geschwistern ist eine der ersten, längsten und oft komplexesten Beziehungen, die wir im Laufe unseres Lebens erfahren. Viele von uns haben selbst Geschwister und können bestätigen, wie prägend diese Beziehungen sein können – im Positiven wie im Negativen. Interessanterweise hat Carl Rogers, der Begründer unseres personzentrierten Ansatzes, diese Thematik in seiner Theorie kaum reflektiert, obwohl er selbst – fast sein gesamtes Leben – mit schwierigen Geschwisterbeziehungen zu kämpfen hatte. Es sind eher die nachfolgenden Theoretiker, die begonnen haben, die Bedeutung der Geschwisterkonstellation in der Entwicklung des Selbst zu berücksichtigen.
Die Bedeutung der Geschwister in der Persönlichkeitsentwicklung:
Geschwisterbeziehungen sind in ihrer Natur hoch ambivalent. Geschwister können eng verbundene Verbündete sein, die sich gegenseitig Halt geben, oder aber erbitterte Rivalen, deren Konflikte das gesamte Familiensystem beeinflussen. Sie sind geprägt von der Geburtsreihenfolge, den jeweiligen Persönlichkeiten der Geschwister und natürlich von der Beziehung der Eltern zueinander. Diese Dynamik schafft eine Vielzahl von Konstellationen, die sich im Laufe des Lebens stetig verändern.
Während unserer Kindheit und Jugend übernehmen wir bestimmte Rollen in unseren Familien, die oft unbewusst unsere Entwicklung prägen. Manche Geschwister nehmen die Rolle des Beschützers ein, während andere vielleicht die Rolle des „schwarzen Schafes“ oder des Rivalen spielen. Diese Rollen können tiefgreifende Auswirkungen auf unser Selbstverständnis haben. Im Laufe unseres Lebens ändern sich jedoch die Umstände, und wir entwickeln uns weiter. Dies führt oft dazu, dass alte Konflikte, die auf frühkindlichen Rivalitäten basieren, im Erwachsenenalter wieder aufbrechen, wenn wir uns mit unseren Geschwistern auseinandersetzen.
In meiner Tätigkeit als Psychotherapeut, Familientherapeut und als Berater von Unternehmerfamilien beobachte ich häufig, wie tief verwurzelte Gefühle von Ungerechtigkeit, Eifersucht oder Zurückweisung aus der Kindheit bis ins Erwachsenenalter überdauern und zu Spannungen führen. Oft ist dies für die Betroffenen besonders schmerzhaft, da sie ihre Geschwister eigentlich lieben, aber gleichzeitig mit diesen ungelösten Konflikten kämpfen.
Ein interessanter Aspekt in meiner Praxis ist, dass viele Menschen im Erwachsenenalter den Wunsch verspüren, diese alten Muster zu durchbrechen und ihre Geschwisterbeziehungen auf eine neue, gesunde Basis zu stellen. Sie kommen zu mir, weil sie die Verantwortung übernehmen wollen, aktiv an ihren Geschwisterbeziehungen zu arbeiten. Dies zeigt, wie wichtig und bedeutsam diese Beziehungen auch im späteren Leben sind.
Rivalität und Scham:
Ein besonders sensibles Thema, das häufig in Familien vorkommt, ist die Rivalität zwischen Geschwistern. Diese Rivalität entsteht oft früh in der Kindheit, wenn die Kinder um die Aufmerksamkeit und Zuneigung der Eltern konkurrieren. Sie ist tief mit Scham verbunden, da viele Menschen es als persönliches Versagen empfinden, in ihrer Familie keine harmonischen Beziehungen aufrechterhalten zu können. Geschwisterkonflikte, insbesondere wenn sie eskalieren oder lange Zeit ungelöst bleiben, werden oft nach außen hin versteckt.
Dieser Punkt wird besonders bedeutsam, wenn es um Fragen der Gerechtigkeit innerhalb der Familie geht, beispielsweise bei Erbangelegenheiten. Gerade in Familienunternehmen kann die Rivalität zwischen Geschwistern existenzielle Bedrohungen für das Unternehmen darstellen. Familienunternehmen sind das Rückgrat der europäischen Wirtschaft, und mehr als 90 % aller Unternehmen in Europa sind familiengeführt. Die Geschwisterdynamik in diesen Unternehmen ist daher von enormer Relevanz. Die enge Zusammenarbeit von Geschwistern kann den Erfolg eines Unternehmens sichern, während ungelöste Konflikte die Stabilität eines Unternehmens ernsthaft gefährden können.
Ein Beispiel aus meiner Praxis betreffend Coaching und Beratung von Familienunternehmen zeigt, wie tiefgreifend solche Konflikte sein können. In einer Unternehmerfamilie, mit der ich gearbeitet habe, führte die Rivalität zwischen den Geschwistern zu einer Blockade wichtiger Unternehmensentscheidungen, was letztlich das gesamte Unternehmen in seiner Existenz bedrohte. Die Konflikte waren nicht nur geschäftlicher Natur, sondern tief in kindliche Eifersüchteleien und das Gefühl der Ungerechtigkeit verankert.
Personzentrierte Geschwisterarbeit:
Als personzentrierter Psychotherapeut und Unternehmensberater habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, Familien, insbesondere Geschwister, dabei zu unterstützen, diese alten Konflikte zu erkennen und zu transformieren. Die Basis meiner Arbeit bildet die Personzentrierte Systemtheorie, die es uns ermöglicht, die Dynamiken innerhalb der Familie im Gesamtkontext zu betrachten. Besonders hilfreich in meiner Arbeit ist die Erstellung eines Genogramms. Ein Genogramm ist ein Werkzeug, das Familienbeziehungen und die Entwicklung der Rollen innerhalb der Familie visuell darstellt.
Anhand eines Genogramms lassen sich wiederkehrende Muster und familiäre Verstrickungen erkennen, die über Generationen hinweg bestehen. In der Arbeit mit Geschwistern geht es oft darum, diese unbewussten Muster bewusst zu machen und zu hinterfragen. Welche Rolle habe ich als Kind eingenommen? Wie hat diese Rolle meine Beziehung zu meinen Geschwistern geprägt? Welche Projektionen trage ich noch heute mit mir? Das Genogramm kann dabei helfen, diese Fragen zu klären und eine Grundlage für die therapeutische Arbeit zu schaffen.
Fälle aus der Praxis als Psychotherapeut und Führungskräfte-Coach:
Um Ihnen einen konkreten Einblick in meine Arbeit zu geben, möchte ich zwei Fallbeispiele aus meiner Praxis vorstellen.
Führungskräfte Coaching für zwei Brüder, die als gleichberechtigte Geschäftsführer ein Familienunternehmen führen. Der erste Fall betrifft zwei Brüder, die über viele Jahre hinweg eine tiefgehende Rivalität gelebt hatten. Beide waren in das Familienunternehmen eingebunden, doch ihre Beziehung war von Misstrauen und Vorwürfen geprägt. Die Brüder haben zunächst ein Führungskräfte Coaching für sich als Geschäftsführer bei mir in Anspruch genommen. Aus dem Coaching hat sich ein familientherapeutische Prozess entwickelt. Durch die Arbeit mit einem Genogramm konnten wir feststellen, dass der jüngere Bruder sich seit frühester Kindheit als „weniger wert“ fühlte, da der ältere Bruder stets die Rolle des Vorzeigekindes eingenommen hatte. Diese Dynamik zog sich über Jahrzehnte hinweg durch ihr Leben und führte zu tiefen Spannungen im Unternehmen. Der therapeutische Prozess half den Brüdern, diese alten Wunden zu erkennen und sich gegenseitig auf einer neuen, respektvollen Ebene zu begegnen.
Ein weiteres Beispiel betrifft zwei Schwestern, die nach dem Tod der Eltern den Kontakt zueinander abgebrochen hatten. Beide fühlten sich von der anderen betrogen und unfair behandelt, was insbesondere bei der Verteilung des Erbes deutlich wurde. Durch die personzentrierte Geschwisterarbeit konnten sie erkennen, dass viele ihrer Konflikte auf alten Rollenzuschreibungen basierten, die aus der Kindheit stammten. Die jüngere Schwester hatte sich stets als das „Sorgenkind“ gesehen, während die ältere Schwester die Verantwortung für die Familie übernommen hatte. Diese unbewussten Rollen wurden im Erwachsenenalter aktiviert und führten zu Missverständnissen und Streitigkeiten. Im Laufe der Therapiearbeit konnten beide Schwestern ihre Beziehung neu gestalten und die alten Wunden heilen lassen.
Die Bedeutung der Geschwisterarbeit in der personzentrierten Therapie:
Diese Fallbeispiele verdeutlichen, wie tiefgreifend Geschwisterbeziehungen unsere Selbstentwicklung beeinflussen. Meine Erfahrung zeigt, dass die Geschwisterarbeit oft einen entscheidenden Wendepunkt in der persönlichen Entwicklung darstellt. Durch die bewusste Auseinandersetzung mit alten Mustern, Projektionen und Konflikten wird es möglich, eine neue Art der Beziehungsgestaltung zu entwickeln, die von Respekt, Verständnis und gegenseitiger Wertschätzung geprägt ist.
Im Rahmen der personzentrierten Psychotherapie hat die Geschwisterarbeit das Potenzial, tiefgreifende Heilungsprozesse anzustoßen, die sowohl das individuelle Wohlbefinden als auch das gesamte Familiensystem betreffen. Es ist meine Überzeugung, dass wir als Therapeutinnen und Therapeuten vermehrt den Raum für diese Dynamiken schaffen sollten, um eine tiefere Heilung zu ermöglichen.
Zusammenfassung und Ausblick:
Zum Abschluss möchte ich betonen, dass Geschwisterbeziehungen eine zentrale Rolle in der Entwicklung des Selbst spielen und eine tiefere Auseinandersetzung in der personzentrierten Therapie verdienen. Wenn es uns gelingt, alte Muster zu erkennen und zu transformieren, können wir nicht nur den Betroffenen selbst helfen, sondern auch das Familiensystem als Ganzes stabilisieren und harmonisieren.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Ich freue mich auf Ihre Fragen und Beiträge.
Der PCE 2024, 16th World Conference for Person-Centered Psychotherapy and Counseling findet vom 9. – 13. September 2024 in Athen statt.
Keywords: Psychotherapie, Familientherapie, Führungskräfte Coaching, Coaching und Beratung für Familienunternehmen
Alle Fotos: Robert Waldl